Bei jedem Sanatoriumsaufenthalt in Davos habe ich mir gewünscht, einmal auf die Pischa - einem Ge-birgsgipfel von 2485 Meter Höhe - fahren zu können. Alle Besucher, mit denen ich gesprochen hatte, schwärmten und schwärmten in den höchsten Tönen davon. Das steigerte nicht nur meine Neugier, sondern von Mal zu Mal auch den Wunsch nach diesem Erlebnis. Wie unmodern, denn wir leben in einer Zeit, wo Wünsche nicht alt werden.

Um so glücklicher war ich, als sich diesmal zwei Kurgäste anboten, mich in ihrem Auto mitzunehmen. Es gab zwar eine Busverbindung, aber die mir zur Verfügung stehende Zeit zwischen den einzelnen Anwendungen hätte dazu nicht gereicht. Außerdem waren Skiabfahrten für Sanatoriumsgäste nicht erlaubt. Diese beiden Gäste jedoch hatten sich vorgenommen, das Verbot zu umgehen, während ich ja dort oben nur einen Spaziergang plante.
Wir verabredeten, gleich nach dem Mittagessen loszufahren. Das Wetter war herrlich, wie für uns ge-macht. Von Tschuggen aus brachte uns die Pischabahn schließlich nach oben. Ich war begeistert. Vor mir auf einer kleineren Anhöhe erstreckte sich ein Panoramaweg in Hufeisenform, der sonnenbestrahlt dalag, mit Bänken zum Verweilen.

Ich fühlte mich nahezu schwerelos, wie auf einer Wolke. Dabei knirschte Schnee unter meinen Füßen, und ich umrundete den Weg hurtigen Schrittes. Mein Asthma war wie weggeblasen. Erst danach such-te ich mir eine Bank, um mich von Sonnenstrahlen umspielen zu lassen und die ungewöhnliche Stille zu genießen. Ich schloß die Augen, atmete die dünne und doch so wohltuend frische Luft ein, ließ meine Seele baumeln und wünschte mir, dieses Paradies nicht mehr verlassen zu müssen.

Daß sich der Wunsch auf seine Weise schneller erfüllen sollte, ahnte ich nicht. War ich ein wenig eingenickt? Ich wußte es nicht. Als ich die Augen öffnete und auf die Uhr schaute, erschrak ich zutiefst. Nicht etwa, weil irgendwie 45 Minuten vergangen waren. Nein, weil der vorher so strahlend blaue Himmel nunmehr als schwarze Wolkenwand über mir hing, Dämmerung sich ausbreitete und die Flocken so dicht fielen, daß ich gerade mal eine Sichtweite von zwei Metern hatte. Wie sollte ich unter diesen Gegebenheiten den Weg zur Bergstation zurück finden? Ich war orientierungslos – verloren im Schnee. Angst bemächtigte sich meiner. Das Schneetreiben war inzwischen so stark, daß ich die Hand nicht mehr vor Augen sah. Ich hätte nie geglaubt, wie tückisch und vor allem schnell das Wetter hier umschlagen konnte. Zum Glück erinnerte ich mich daran, daß im Abstand von 50 Metern jeweils eine Bank stand, also mußte ich mich nur von einer zur anderen tasten, wollte ich die Bergstation heil erreichen. Bis zur nächsten Bank schaffte ich es ziemlich problemlos, was meine Hoffnung beflügelte. Ich ging ein paar Schritte weiter, rutschte plötzlich ab und versank bis zu den Hüften im Schnee. Fernab hörte ich das Rufen von Skifahrern, die wohl ebenfalls vom Wetter überrascht worden waren und sich nun laut Signale gaben. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief um Hilfe. Keine Antwort. Wer sollte mich hören, wie mich finden? Nachmittags um vier wurde es zu dieser Jahreszeit bereits dunkel, und wenn mich nicht bald jemand entdeckte, würde ich hier erfrieren, meinen so lang ersehnten Ausflug zur Pischa mit dem Leben bezahlen. Wie gut, daß meine Eltern das nicht mehr erleben mußten, dachte ich. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Reiß dich zusammen, rief ich mir zu, denn Panik war das, was ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte. Ich versuchte vorsichtig, nach oben zu robben, mich an einem Strauch festzuklammern, den ich zu greifen bekam, um aus den Schneemassen herauszukommen statt tiefer zu rutschen oder gar den Abhang hinabzustürzen. Sehr weit konnte der eh nicht entfernt sein.

Plötzlich hörte ich das Geräusch von Ketten eines Pistenräumfahrzeuges. Mein Gott, wenn der über mich hinwegfährt, war mein nächster Gedanke. Riesige Scheinwerfer krochen unaufhaltsam auf mich zu, erfaßten im letzten Moment meinen roten Anorak. Der Motor wurde abgestellt, und ein Mann schrie:

„Wie kommen Sie denn hierher?“

Er näherte sich langsam, legte sich längs auf den Boden, reichte mir beide Hände und zog mich vorsichtig aus meinem Schneebett. „Junge Frau, das hätte aber böse ausgehen können. Haben Sie denn nicht die heranziehenden Wolken gesehen?“

Ich verneinte.

„So ein Leichtsinn!“

Er führte mich zu einem dicken Seil, an dem ich mich bis zu den Stufen des Restaurants der Bergstati-on vortasten sollte. Die Hände klamm, gelang das nur mühsam. Endlich geschafft!

Die beiden Kurgäste, die mich mitgenommen hatten, saßen aufgeregt im Restaurant und hatten verzweifelt auf meine Rückkehr gewartet, ja, mich bereits als vermißt gemeldet. Sie atmeten erleichtert auf und bestellten mir sofort einen Cognac, als sie sahen, wie mir die Zähne aufeinanderschlugen, ob nun vor Kälte oder im Schock.

Als wir mit dem Kabinen-Lift wieder nach unten fuhren, zitterten mir immer noch die Knie. Gesprochen haben wir auf der Rückfahrt nichts. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Leise schlich ich mich auf mein Zimmer. Ich brauchte kein Abendessen, sondern hatte nur das Bedürfnis nach einem heißen Bad und einem warmen Bett, in dem ich mich geborgen fühlen konnte.

Die Sehnsucht, noch einmal auf die Pischa zu fahren, hat mich nie mehr heimgesucht.

 

Brigitte Sattelberger
Davos 1985


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