Winterzeit – Weihnachtszeit im Hochgebirge. Der Barpianist des Sporthotels in Davos hatte sein Spiel beendet. Gitta, in diesem Jahr ein Gast des Hauses, schaute auf die Uhr: Mitternacht. Sie hörte, wie die letzten Bewohner des Hotels sich langsam auf ihre Zimmer zurück-zogen. Nach und nach kehrte Ruhe ein. Normalerweise lauschte sie gern der Musik des Pianis-ten, die in ihr Zimmer heraufdrang, das direkt über der Bar lag. Schließlich befand  sie sich in einem Alter, in dem man noch gern tanzt und an Geselligkeiten teilnimmt. Aber im Gegensatz zu dem überwiegenden Teil der Gäste, die sich hier einen Ski- oder Weihnachtsurlaub gönn-ten, befand sie sich aus gesundheitlichen Gründen in diesem Urlaubsort. Sie hoffte, durch das Hochgebirgsklima Linderung ihres Asthmas zu finden. In dieser Nacht fühlte sie sich beson-ders von dem bunten Treiben ausgeschlossen. Oder war es, weil es auf Weihnachten zuging und sie in der Fremde war? Sie dachte an ihre Familie, die das Fest der Feste in diesem Jahr ohne sie feierte. Traurigkeit überkam sie. Sie wälzte sich im Bett von einer Seite auf die ande-re, ohne Ruhe zu finden. Das Mondlicht, das trotz der vorgezogenen Vorhänge durch das Fenster hereindrang, ließ sie erst recht nicht schlafen. Selbst der Versuch, durch autogenes Training Schlaf zu finden, schlug fehl. Und so entschloß sie sich kurzerhand aufzustehen. Sie lenkte ihre Schritte zum Balkon, schaute durch die Scheiben hinaus. In den vergangenen Nächten bis in den gestrigen Vormittag hinein hatte es geschneit. Am Nachmittag hatte sich dann das Bild verändert. Es sah aus, als würden wie von Geisterhand hauchdünne weiße Schleier über die Dächer der talwärts liegenden Häuser gezogen. Schleier, die sich hier und da zu einer undurchsichtigen Wand verdichteten, um sich urplötzlich in Nichts aufzulösen und den Himmel wieder in seinem strahlendsten Blau erscheinen zu lassen.

Als Gitta die Balkontür öffnete, überflutete sie silbernes Mondlicht. Stille hüllte sie ein. Ihre Blicke wanderten hinauf zu diesem so runden wie freundlich auf die Erde nieder lächelnden Gesicht. „Hallo, du da oben!“ War es Einbildung oder blinzelte der Mond wirklich, um auch ihr seine Grüße zu schicken, ihr ganz persönlich? Natürlich wußte sie, daß dieser leuchtende Ball in Wirklichkeit eine Kraterlandschaft war. Trotzdem hatte er für sie nichts von seinem bisherigen Flair eingebüßt. Im Gegenteil, sie fühlte sich auch in ihrem Erwachsenen-Dasein von diesem Phänomen angezogen.

Tausende von Sternen blinkten am nächtlichen Himmel. Eine wundersame Ruhe lag über dem Tal. Aus dem Dorf waren vereinzelt Lichter zu sehen, die sich durch einen leichten Lufthauch hin- und herbewegten. Sie wirkten wie Signallampen, die einem verirrten Wanderer den Weg zeigten, ihn sicher in die häusliche Wärme geleiteten. Der Uhrzeiger kroch auf 3 Uhr morgens, als Gitta leise die mit dicken Läufern ausgelegte Hoteltreppe hinunterschritt und mit zwei Fingern auf den Lippen an dem Nachtportier vorüberhuschte.

Etwas irritiert schaute er hoch, um sogleich wieder einzunicken, während sie dem Ausgang des Hotels zustrebte. Sie öffnete vorsichtig die Tür. Draußen umfing sie wieder diese wunder-same nächtliche Stille. Eine Stille, die nichts Beängstigendes hatte, sondern Ruhe und Frieden ausstrahlte – die ihr ein Glücksgefühl vermittelte, wie sie es schon lange nicht mehr empfun-den hatte. Die spitzen Eisen unter den Absätzen ihrer Stiefel bohrten sich knirschend in den tagsüber frisch gefallenen und über Nacht leicht gefrorenen Schnee. Jeder ihrer Schritte klang ein wenig wie zerberstendes Glas, was sie erschreckte und für einen Moment verharren ließ. Erst nach und nach begannen sich ihre Ohren an dieses wiederkehrende, die Stille durchbre-chende Geräusch zu gewöhnen. Es war bitterkalt, bestimmt 20 Grad Minus, denn das Einat-men der Luft schmerzte sie in den Nasenlöchern. Die Ohren begannen sogleich zu brennen. Sie zog ihre Mütze tiefer über Stirn und Ohren und band das Schaltuch über Mund und Nase.

Ein bestimmtes Ziel lag nicht vor ihr. Der Ort gehörte ihr allein: der nächtlichen Wanderin. Sie lenkte ihre Schritte an den vor den Hotels und Pensionen stehenden Tannenbäumen vorbei, die mit Lichterketten geschmückt waren. Ebenso konnte sie die weihnachtlichen Auslagen in den hellerleuchteten Geschäften der jetzt menschenleeren Straßen bewundern. Einen Fuß vor den anderen setzend, fand sie sich schließlich am Landwasser, einem sich durch Davos schlängelnden Bach, wieder. Ein für sie in der Nacht unbekanntes und doch so fesselndes, neues Bild bot sich ihrem Auge. Die mit Schnee behangenen Bäume der Allee, die am Land-wasser entlang führte, warfen – vom Mondlicht beschienen – bizarre Schattengebilde auf den Weg. Ein zarter Lufthauch ließ den Pulverschnee wie Silberfäden herabrieseln, um ihr damit seinen Nachtgruß zu entbieten. Gitta hätte es für ganz natürlich gehalten, wäre in dieser ver-zauberten Märchenwelt plötzlich Schlittengeläut zu hören gewesen und das Christkind an ihr vorübergerauscht. Auf den leise hin- und her tanzenden Wellen des Baches hatte Mister Moon eine Brücke aus Millionen silbern glitzernder Wassertropfen von einem Ufer zum anderen ge-schlagen. Eine Brücke, die auf- und abwogte und wie ein schwebender Teppich aus Tausend-undeiner Nacht aussah.

Zu beiden Seiten des Landwassers, wo sich die Schneemassen meterhoch türmten, hatte sich in Ufernähe eine Eisdecke gebildet. Teile davon sahen aus wie fein geschliffenes Kristall, in dem sich das Mondlicht brach. Wo das Eis besonders dünn schien, konnte sie sogar die Kiesel leuchten sehen. An den Giebeln der Häuser sowie unter dem hölzernen Brückengeländer hin-gen dicke Eiszapfen. Sie wirkten wie Speerspitzen, die sich zu einem Gitter herabgelassen hatten, um Mensch und Natur vor allem Bösem zu schützen.

Neugier erfaßte die junge Frau. Sie überquerte die kleine hölzerne Brücke und gelangte zum anderen Ufer. Ein neues Panorama erschloß sich ihr, schön und geheimnisvoll, so daß sie die Hände faltete und ein stummes Gebet gen Himmel schickte. In tiefem Schlaf und dunkel ab-gezeichnet lagen die Berghänge auf der einen Seite. Vom Licht des Mondes angestrahlt, zeichneten sich die Konturen der Gipfel auf der anderen Seite ab. Zum ersten Mal fiel ihr auf, daß das Licht hier ganz anders als im Tiefland erstrahlte. Es hatte nicht diesen kalten Schim-mer, wirkte irgendwie weicher. Die Spitzen der Bergmassive waren von einem eigenartigen zarten Rosé überzogen, das weiter nach unten einen Ton von Elfenbein annahm. Nur auf den schneebedeckten Halden und den Dächern des Ortes, deren Mützen immer höher wurden, schien es gleißend, von einer distanzierenden Kühle. Es schimmerte hier weißsilbern, ohne jedoch den Augen weh zu tun. Noch nie waren ihr die Farbschattierungen so bewußt gewor-den wie in dieser Nacht. Dabei hatte sie schon oft bei Mondschein auf ihrem Balkon gestan-den und die Bergmassive bewundert. Die Spitze des Kirchturms ragte über die Häuser hin-weg, ebenfalls vom Mondlicht angestrahlt. Es war nicht zu übersehen, sie wollte sich selbst in der Nacht behaupten, ihre Macht demonstrieren. Im gleichen Moment schlug die Uhr fünfmal. Gittas Hände begannen langsam klamm zu werden. Sie entschloß sich, den Rückweg anzutre-ten. Aber ein neues Bild fesselte sie: Vier Rehe stapften lautlos durch den Schnee auf eine für sie hergerichtete Futterkrippe zu. Gitta wagte kaum zu atmen, geschweige denn sich zu bewe-gen, um die Tiere nicht zu erschrecken, um die Schönheit ihrer schlanken Gestalten in sich aufzunehmen. Ein Bild des Friedens! Nach einer Weile versuchte Gitta auf Zehenspitzen wei-terzugehen, um das „Knack, knack“ der Eisen unter ihren Füßen zu vermeiden. Unglückli-cherweise übersah sie dabei eine gefrorene, spiegelglatte Stelle auf dem Weg und landete so-mit etwas unsanft auf ihren „vier Buchstaben“.

Zum Glück war nichts passiert. Auch die Rehe standen noch da, die Ohren allerdings gespitzt, zu ihr herüberschauend. Sie erhob sich, klopfte den Schnee von Jacke und Hose, ging weiter, eingehüllt in das Gefühl, ein Körnchen dieser Erde, ein Stück von Mutter Natur zu sein. Sie atmete tief durch und genoß noch einmal intensiv die Schönheit und wohltuende Stille dieser Mondschein-Nacht. Eine Nacht, die für sie lebendige Erinnerung bleiben würde, abrufbereit in schweren Stunden, fernab einer Welt, die nur noch von Krieg, Mord und Totschlag, Katastro-phen und Mißgunst der Menschen untereinander zu berichten wußte.

Erneut schaute sie zum Himmel empor, winkte dem Mond zu. Minuten später sah sie eine Sternschnuppe vom Himmel fallen: ihre Weihnachtssternschnuppe – Zeichen des Glücks, der Liebe, der Freude, der Wünsche.
Sie fühlte sich auf einmal frei, losgelöst von allem. Ihre Traurigkeit war verschwunden, und sie empfand großes Glück, in dieser verschneiten Winterlandschaft sein zu dürfen. Dieser vor-weihnachtliche Mondscheinspaziergang war Balsam für ihre wunde Seele. Er würde ihr hel-fen, mit den Problemen ihrer Krankheit für einige Zeit wieder besser fertig zu werden, sie in einem gemilderten Licht zu sehen, in diesem einzigartigen Licht hier und jetzt. 

Nur noch wenige Schritte und ihr  Domizil kam bereits in Sicht. Bald würde der unsichtbare Trompeter zum Anbruch des Morgens blasen. Die ersten Straßenlaternen flammten auf, Autos brachten ihre Lieferware in die Hotels, und Lady Sunshine war dabei, Mister Moon am Him-mel abzulösen, ihm vielleicht auch einen Gruß zuzuwerfen. Ein neuer Tag begann, ein Tag, in dessen Räderwerk sie sich nach dieser Nacht beglückt einreihen würde.

Brigitte Sattelberger
Davos 1985


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