Fremde – Freunde
Schwungvoll setzte Andreas seinen Namen unter die Heiratsurkunde, gab den Stift an seine Braut weiter, die mit klarer, fester Schrift ihren neuen Namen hinzufügte. Der Bund war besiegelt. Zärtlich und gleichzeitig besitzergreifend nahm Andreas Barbara in seine Arme, er küßte sie leidenschaftlich vor dem Standesbeamten und den Trauzeugen.
Hochzeitsfeier – Barbaras Augen strahlten voller Glück, während sie sich mit Andreas im Wal-zerschritt drehte, beide sich verliebt in die Augen sahen, alles um sich herum vergessend.
Sie gaben ein schönes und interessant wirkendes Paar ab. Er überragte sie mit seinen 1,90 Meter um etliche Zentimeter, wirkte sportlich gestählt, hatte braune Haare und tiefblaue Augen; sie war von grazilem Wuchs, trug leuchtend rotes Haar. Dieses Paar freute sich jetzt wie die meisten Frischvermählten auf die Hochzeitsreise.
Einmal Urlaub in Italien machen, diesen Herzenswunsch hegte Barbara schon lange. Leider hatte sich bisher dazu keine Gelegenheit ergeben. Dieser Wunsch würde durch die Hochzeitsreise mit Andreas nun in Erfüllung gehen.
Sie zog es mit aller Macht nach Italien, dem Land der Sonne, des blauen Himmels, des Meeres – von ungezählten Tenören besungen.
Im Gegensatz zu Barbara kannte Andreas Italien bereits und sprach begeistert davon. Eine wun-derbare Reise lag vor ihnen, zwar ohne feste Buchung, aber mit einem bestimmten Ziel vor Augen. Dieses Ziel hieß Rimini und zum Abschluß eine Woche Venedig. Sie fuhren mit dem Auto, um unabhängig zu sein. Ihre erste Station ging über Lugano zum Comer See. Hier übernachteten sie, schlenderten am nächsten Morgen die Seepromenade entlang, genossen das Panorama – den See, die Berge –, bevor sie sich zur Weiterfahrt entschlossen. In der Nähe von Milano verfuhren sie sich gleich zweimal auf dem Autobahnkreuz, so daß sie später als vorgesehen in Rimini eintra-fen. Beide waren genervt und übermüdet und ihnen war klar, daß es schwierig werden würde - die Zeiger der Uhr krochen auf 22 Uhr -, noch eine geeignete Unterkunft zu finden. Eine Schrift-zug in großen Leuchtbuchstaben zog ihre Aufmerksamkeit auf sich: Informazione. Sie hielten, stiegen aus, klopften – leider ergebnislos.
Unschlüssig gingen die beiden auf und ab, bis ein Mann von der gegenüber liegenden Tankstelle sie ansprach. Er mußte sie wohl beobachtet haben, denn jetzt stellte er sich ihnen vor als Besitzer der Tankstelle.
Andreas erklärte dem Italiener ihr Problem und fragte, ob er ihnen helfen, beziehungsweise ein gutes Hotel empfehlen könne.
„Si, si, Signore, - mio fratello“, sein Bruder, erklärte er, sei Hotelier in Rivazzurra di Rimini. “Sicher hat er ein Zimmer für Sie frei, oder er kann Ihnen eines vermitteln. Wenn Sie wollen, rufe ich ihn sofort an, damit er Sie hier abholt und Ihnen den Weg ins Hotel zeigt.“
Andreas und Barbara nahmen das Angebot dankend an. Während die beiden auf den Hotelier warteten, fragte Andreas den Italiener, wo er die deutsche Sprache so gut erlernt habe. „Drei Jahre Köln sind für mich eine harte, aber gute Schule gewesen“, meinte dieser. Gleich darauf hielt ein Ferrari neben der Zapfsäule. Ein Mann stieg aus, näherte sich. Die beiden Brüder be-grüßten einander herzlich, und Andreas wie Barbara wurden dem Hotelier vorgestellt, einem hochgewachsenen, gut aussehenden, glutäugigen Mann mit schwarzen Haaren, der ihnen in zu-vorkommender Manier nicht nur die Hand reichte, sondern die von Barbara leicht an seine Lip-pen hob und damit einen Handkuß andeutete.
„Wow! Ein toller Mann“, stellte Barbara insgeheim fest. Ein Typ, bei dem sogar sie – wäre sie frei – schwach werden könnte. Sicherlich war er verheiratet. Außerdem liebte sie ihren Andreas über alles.
Mario Bartolini musterte unauffällig das ihm gegenüberstehende Paar – sicheres Auftreten, de-zent, sehr geschmackvoll gekleidet, sympathisch. Das war der erste Eindruck, den er von den beiden gewann, und mit dem er zufrieden schien. Freundlich lächelnd sagte er:
„Ich schlage vor, Sie fahren mit Ihrem Wagen einfach hinter meinen her.“
„In Ordnung“, antwortete Andreas, und zu Barbara gewandt: „Der Mann gefällt mir, resolut, anpackend und nett.“
Obwohl Mario langsam fuhr, mußte sich Andreas in der Dunkelheit stark auf den Verkehr kon-zentrieren. Endlich waren sie am Ziel. Mario dirigierte sie in eine Parklücke und zeigte ihnen dann mehrere Zimmer des Hotels. Alles machte einen äußerst gepflegten Eindruck. Gleichzeitig wies er darauf hin, daß die Zimmer leider alle bis zum nächsten Tag belegt seien. Als er ihr be-stürztes Gesicht sah, fuhr er fort:
„Machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich werde mich selbstverständlich um eine andere Unter-kunft für diese Nacht bemühen, auch wenn Sie es sich anders überlegen sollten und morgen kein Zimmer in unserem Hotel buchen.
Er führte sie in den elegant eingerichteten Speisesaal des Hotel Eifel, machte sie mit seiner Frau Luisa bekannt, einer ebenfalls sehr apart wirkenden Erscheinung um Mitte Dreißig, und er bat Andreas und Barbara, es sich bequem zu machen.
Obwohl es zwischenzeitlich auf 23 Uhr zuging, duftete es plötzlich nach Gebratenem, so daß den beiden, die seit Mittag nichts mehr gegessen hatten, buchstäblich das Wasser im Munde zusam-menlief. Die Hoteliersgattin kam mit einem großen Tablett, servierte ihnen ein warmes Essen mit einer riesigen Portion Salat. Barbara und Andreas kamen aus dem Staunen nicht heraus, denn mit einer derartigen Gastfreundschaft hatten sie überhaupt nicht gerechnet. Aber das sollte erst der Anfang sein.
Signor Mario kam zurück. Er besprach mit seiner Frau etwas in Italienisch, wozu sie einverstan-den nickte, bevor er sich erneut an Andreas wandte und ihn bat, ihm mit Barbara in seinem Wa-gen erneut zu folgen.
Der Weg führte sie außerhalb von Rimini in eine wesentlich stillere Gegend. Als Mario mit sei-nem Wagen hielt, sie alle ausstiegen, befanden sie sich vor einer großen Villa, eingebettet in einen weitläufigen Garten. Er schloß das Gartentor auf mit den Worten: „Ich darf vorausgehen“, steck-te den Schlüssel in die Haustüre, führte Andreas und Barbara durch die Küche, das Bad, und von dort aus in ein geschmackvoll eingerichtetes Schlafzimmer, in dessen Mobiliar sich Barbara sofort verliebte.
„E´mia casa“, erklärte er. “Ich freue mich, Sie hier begrüßen zu dürfen und hoffe, Sie werden eine wundervolle Nacht verbringen. Morgen gegen 10 Uhr hole ich Sie zum Frühstück wieder ab. Wenn Sie etwas trinken wollen, in der Küche finden Sie Aqua minerale. Das Bad steht selbstver-ständlich zu Ihrer Verfügung. Sie entschuldigen mich bitte, aber ich muß sofort zurück ins Hotel. Gute Nacht.“
„Vielen Dank für alles“, hauchte Barbara, denn sie hatte Andreas noch nie so sprachlos gesehen. Das Geräusch von leisem Zuziehen der Haustür drang in ihr Unterbewußtsein, dann herrschte Stille.
„Sag mir, daß ich träume! So etwas kann es in Wirklichkeit gar nicht geben, Barbara!“, begann Andreas, der immer noch unentschlossen an der Tür zum Schlafzimmer stand.
„Ich glaub’ ich träume oder bin in einem Film.“ „Aber es ist keins von beidem, Andreas. Es ist einfach wahr! Der Mann hat uns sein Haus für diese Nacht überlassen, sein eheliches Schlafzim-mer plus Bad und Küche zur Verfügung gestellt; für mich ein Wunder, nicht zu fassen, darin muß ich dir recht geben.“
„Woher nimmt er dieses Vertrauen uns gegenüber? Menschen, die er weder kennt noch von ihnen etwas weiß? Alles steht hier offen, kein Schrank ist abgesperrt. Er ist entweder derart naiv, was ich mir bei seinem Beruf schlecht vorstellen kann, oder verrückt!
„Er ist weder naiv noch verrückt, Andreas. Er ist ein Mann mit großer Menschenkenntnis, denke ich. Vor allem ein Menschenfreund. Ob wir die Gründe für sein Handeln jemals erfahren werden, darüber sollten wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Ich weiß nur eines: Ich bin hundemüde und bin dankbar, mich duschen und in ein frisch bezogenes Bett legen zu dürfen.“
„Woher weißt du, daß es frisch bezogen ist?“
„Das sehe ich sofort, anderenfalls hätte er uns Bettwäsche gegeben, so wie er uns auch frische Handtücher hingelegt hat. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche“, meinte sie gähnend und ging ins Bad.
Erfrischt schlüpfte sie danach ins Bett, aber es fiel ihr nicht leicht, die Augen offen zu halten, bis Andreas endlich kam. Vertrauensvoll schmiegte sie sich an ihn und war in den nächsten Minuten eingeschlafen, während Andreas immer noch über das Warum und Wieso grübelte.
Ein paar Sonnenstrahlen kitzelten Barbara wach. Sie reckte und streckte sich, gab Andreas einen Kuß auf die Nasenspitze und rief:
„Aufstehen, du Langschläfer, es ist bereits 9 Uhr vorbei! Ich möchte aufgeräumt haben und nicht im Nachthemd stehen, wenn Signor Mario kommt. - Mein Gott, ist das hier schön“, seufzte sie, als sie einen Blick nach draußen in den Garten warf.
Wie vorauszusehen war, erschien Signor Mario pünktlich, und seine erste Frage lautete: „Haben Sie auch gut geschlafen?“
„Einfach wunderbar“, antworteten beide wie auf Kommando.
„Dann werden Sie jetzt auch Hunger haben, das Frühstück wartet. Bitte kommen Sie! Und wenn Sie sich für unser Hotel entscheiden, können Sie anschließend Ihr Zimmer beziehen.“
Frühstück im Garten des Hotels, ein Zimmer mit Meeresblick. Andreas und Barbara bereuten keine Sekunde lang, sich für dieses Hotel entschieden zu haben. Die Betreuung der Gäste war phantastisch, die italienische Küche hervorragend und schmackhaft. Der Himmel strahlte über der Adria in seinem schönsten Blau während dieser beiden Wochen. Was wollten sie mehr?
In der zweiten Woche kochte Signora Luisa für Andreas sogar Diät. Mario hatte den beiden ge-genüber von seiner Lebererkrankung gesprochen, worauf Andreas beiläufig seine Magenbe-schwerden erwähnte.
Auch wenn Signora Luisa nur gebrochen Deutsch sprach, so tat dies der Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelte, keinen Abbruch. Beide Ehepaare begegneten einander mit Herzlich-keit, Achtung und großer Sympathie.
Am letzten Abend erlebten Andreas und Barbara eine weitere Überraschung. Die erste Über-nachtung – die in der Villa – stand nicht auf der Rechnung. Andreas erlaubte sich, darauf auf-merksam zu machen. Mario dagegen lachte verschmitzt: „Das ist unser Hochzeitsgeschenk für Sie. Sie sind doch auf Hochzeitsreise, nicht wahr?“
„Woher wissen Sie das?“ fragte Andreas erstaunt.
„Ich bin Italiener, Signor Andreas. Wir haben einen Blick für Brautpaare. Es hat also alles seine Richtigkeit“, wobei er eine Flasche Champagner öffnete, die Gläser füllte und mit seiner Frau und ihnen auf die Zukunft anstieß.
So sehr sich Barbara auf Venedig freute, der Abschied von diesen liebenswerten Menschen fiel ihr schwer und so rannen Tränen auf beiden Seiten. Mit dem Versprechen, im nächsten Jahr be-stimmt wieder zu kommen, reisten sie schließlich ab.
Leider sollte es kein Wiedersehen geben. Andreas wurde versetzt und konnte deshalb keinen Urlaub nehmen. Auf ihre Anfrage im Jahr darauf schrieb ihnen Signora Luisa, sie hätte das Hotel verpachten müssen, da Mario an seinem Leberleiden ganz plötzlich verstorben sei. Andreas und Barbara waren über diese Nachricht zutiefst bestürzt, konnten es kaum fassen. Sie trauerten mit Luisa um einen außergewöhnlichen Menschen, einen wundervollen, gastfreundlichen Mann – dem Fremden als Freund.
Immer wenn sie die Geschichte von ihrer Hochzeitsreise im Kreise von Freunden und Bekannten erzählten, stellten sie die gleiche Frage:
„Würde jemand von euch einem fremden Paar sein Haus öffnen, einfach zur Verfügung stellen, ohne jegliche Garantie?“
Meist folgte betretenes Schweigen. Die Frage blieb unbeantwortet, selbst von ihnen.
Wie lernt man Dinge wie Menschenkenntnis? Wer lehrt Vertrauen?
Brigitte Sattelberger
1997