Leseprobe aus "Der große Santini"
„Im Haus des Schuhmachermeisters Möbus herrschte bereits seit Tagen emsiges Treiben, Vorbereitungen für die Hochzeit der jüngsten Tochter Elsa wurden getroffen.
Der Meister, ein Mann von kräftiger Statur, die Schultern leicht nach vorn gebeugt, durchquerte die kleine Werkstatt in seinem Haus. Die dunklen buschigen Augenbrauen standen im Gegensatz zu seinen schon stark ergrauten Haaren. Er trug einen Schnauzbart im Stile Kaiser Wilhelms. Auf der Nase saß eine Nickelbrille, über die er festen und strengen Blickes seine Umgebung fixierte. Voller Stolz schaute er auf die soeben fertiggestellten Brautschuhe in seinen Händen.
Sein Werk konnte sich sehen lassen, er war zufrieden. Schuhe mußten nach Meinung des Meisters ihren Zweck erfüllen, sie hatten praktisch und bequem zu sein und sollten über Jahre hinweg Freude und Wohlbehagen bereiten. In der eigenen Familie hielt der Brautvater von allzu modischem Firlefanz ohnehin nichts, auch dann nicht, wenn es sich um die Brautschuhe seiner Jüngsten handelte. Dabei bekam Elsa ihre Schuhe selbst für diesen besonderen Anlaß nicht etwa umsonst. Nein, schon als Schulmädchen mußte sie anfangen, jeden Pfennig dafür zu sparen, um die benötigte Summe für das Leder zurücklegen zu können – Geld, daß sie sich durch Botengänge und andere kleinere Gefälligkeiten erarbeitet hatte. Die Herstellung allein war das Geschenk ihres Vaters zur Hochzeit.
Der Schumachermeister Möbus galt als ein äußerst sparsamer Mann. Mit jedem Pfennig rechnen lernen, dies predigte er deshalb allen, die es hören oder nicht hören wollten.
Acht Tage noch, und die letzte seiner drei Töchter wird das Elternhaus verlassen. Ein Glück, daß er sich um dieses Mädel keine Sorgen zu machen brauchte. Sie hatte den Richtigen gefunden. Elsa würde einem braven, ehrbaren Mann aus der unmittelbaren Nachbarschaft ihr Ja-Wort geben. Sein zukünftiger Schwiegersohn Alfredo war sehr beliebt – vor allem übte er einen anständigen Beruf aus, den des Schlossers"
Was er allerdings nicht wußte, Alfredo nahm heimlich Gesangstunden und ließ sich zum Tenor ausbilden.
Die Trauung: „Orgelmusik setzte ein, die hellen Stimmen des Kinderchores erklangen. Der Pfarrer trat aus der Sakristei, schritt langsam auf die Brautleute zu und begann mit seiner Ansprache. Er redete über Liebe, Treue und den Bund der Ehe in guten und schlechten Tagen. Angestrengt lauschte Elsa den Worten des Geistlichen, ohne den Sinn ganz zu erfassen."
„Ihre Gedanken schweiften ab – andere Bilder schoben sich plötzlich in den Vordergrund. Wieso mußte sie ausgerechnet im schönsten Moment ihres Lebens an ihre Schwestern Regina und Anna denken? Wieder richtete sie ihren Blick auf Alfredo statt auf den Geistlichen. Sie glaubte plötzlich ,statt dessen Annas Stimme zu vernehmen, die da laut und deutlich sagte:
„Gefühle sind wandelbar, Elsa. Was du heute für die große Liebe, ja das erträumte Glück, den Himmel auf Erden und unumkehrbar hältst, kann morgen ganz anders aussehen, ohne daß du es gewollt hast oder gar schuldig geworden bist. Glück ist wie ein Regenbogen oder wie ein Schmetterling, der sich nicht halten läßt. Glück zerbricht so leicht wie Glas und platzt oft wie eine Seifenblase. Vergiß das nie!"
„Elsa, wo ist mein weißes Hemd? Du hast es hoffentlich gebügelt? Wo ist die dazu passende Schleife? Warum dauert das so lange? Wo bleibst du nur? Elsa, bitte beeil dich und hilf mir beim Zuknöpfen", rief Alfredo durch die Wohnung, als seine junge Frau mit den gewünschten Utensilien über dem Arm herbeieilte.
Vor ihrer Ehe hatte Elsa geglaubt, diesen Mann gut zu kennen. Nun, nach einem halben Jahr, mußte sie einsehen, daß sie mit einem Mann zusammenlebte, dessen Wesen ihr fremd schien und der ihr täglichneue Rätsel aufgab, mit denen sie nur schwer zurechtkam. Wie ein Kreisel war er ununterbrochen in Bewegung, mal hier, mal da. Sein Leben spielte sich für Elsas Begriffe mehr auf der Bühne ab als zu Hause. Das Erlernen von Texten bereitete ihm so gut wie keine Mühe. Schon immer konnte er stundenlang Gedichte, Balladen und Auszüge aus Schauspielen rezitieren, und Elsa wußte manchmal nicht, ob es seine eigenen Worte waren, die er zu ihr sprach, oder die aus einem Stück."
Alfredo hat seine Ausbildung als Tenor abgeschlossen und besucht mit seiner Frau ein Volksfest – die Dresdner Vogelwiese, wo sich beide von einer Zigeunerin aus der Hand lesen lassen.
„Die Zigeunerin betrachtet intensiv die Linien seiner linken Hand, zeichnet diese mit den Fingerkuppen nach und sprach: „Hüte dich vor Erkältungen, denn deine Schwachstelle ist die Brust. Du wirst keine Not leiden, aber auch nie zu Reichtum kommen. Dein Stern wird wie ein Komet am Himmel aufsteigen, aber nimm dich in acht vor falschen Freunden und zu großen Illusionen und Erwartungen. Wer zu hoch hinauf will, fällt tief, mein Freund. Und der da oben", wobei sie ins Himmelblau zeigte, „der läßt sich durch nichts und niemanden betrügen. Er präsentiert uns allen eines Tages die Rechnung. Du wirst geliebt, bewundert und in nächster Zeit viel Glück haben, besonders beruflich und mit den Frauen, aber..." Hier machte sie eine lange Pause: „Aber, du wirst dein Leben und dein Glück achtlos verspielen und ..." wieder eine längere Pause „...dein 28. Lebensjahr nicht vollenden."
Vergewissern Sie sich, liebe Leser/Innen, wie sich diese Prophezeiung erfüllt.