Kapitel 01 Buchvorstellung

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Bereits als Heranwachsende hatte sie begonnen, ihre tieferen Gefühle zu Papier zu bringen, sie in kleinere Erzählungen oder Gedichte zu fassen. Gedichte, die – sie mußte lachen – damals wohl eher Balladen ähnelten. Ihre Aufsätze arteten zum Leidwesen ihrer Deutschlehrerin stets in Romane aus, was ihr oft eine schlechte Benotung einbrachte. In Gedanken sah sie das alte Schulhaus vor sich, die Bank, in der sie gesessen hatte, hörte die tadelnde Stimme der Lehrerin, die sie wieder einmal zu einer Standpauke ins Physikzimmer bestellte. Dort ließ es sich ungestörter als im Lehrerzimmer reden. Wie so oft ging es darum, ihre Gedanken kürzer zu fassen. Mit gesenktem Kopf, den Blick vom Zerberus abgewandt, hörte Cornelia stumm zu und gelobte Besserung. Für gewöhnlich jedoch nur mit halbem Ohr und keineswegs reinem Herzen. Das auf dem Schreibtisch stehende Pendel, auf welches sie in solchen Momenten geschickt ihre Blicke lenkte, fand sie nämlich weitaus interessanter. Es war faszinierend, wenn die Paukerin die Pendel nacheinander anstieß, und es dauerte ziemlich lange, bis beide Kugeln in einer Art Anpassung in den gleichen Rhythmus übergingen. Selbst wenn dieser Rhythmus gewaltsam gestört wurde – was oft geschah –, kehrten die Kugeln zum gleichen Schlag zurück. Sie pendelten sich wortwörtlich ein.

Es war der Zeitpunkt ihrer ersten großen Liebe, als sie wieder begann, Gedichte zu schreiben und Tagebuch zu führen. Das Tagebuch einer jung Verliebten, nicht ahnend, welch weitreichende Komplikationen diese Liebe heraufbeschwören sollte. Sie führte sie nämlich direkt in die Arme der Stasi. Als die Liebe dann zerbrach, war sie mit ihren Kräften am Ende. Mit dem Staatssystem konnte und wollte sie sich nicht anfreunden. Im Gegenteil, ihr Haß wuchs täglich, bis sie keinen anderen Ausweg mehr sah, als in den Westen zu fliehen, wollte sie dem Drängen der Stasi als MfS (Mitarbeiter für Staatssicherheit) für sie zu arbeiten nicht nachgeben. Sie entschloß sich, fast alle Tagebuch- und anderen Aufzeichnungen vor ihrer Flucht zu vernichten. Die Gefahr, daß sie in unbefugte Hände gerieten, war zu groß. Und das durfte keinesfalls geschehen. Es hätte nicht nur für sie, ganz sicher auch für ihre Eltern ungeahnte Konsequenzen mit sich gebracht. Nach diesem unumstößlichen Vorsatz las Cornelia mehrere Nächte hindurch noch einmal sehr genau alle Niederschriften. Am Ende holte sie die kleinen, so kostbaren Notizbücher aus ihrem Versteck und verbrannte sie schweren Herzens.

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