Verrückt genug Schriftstellerin zu werden - Ein Roman von Brigitte Sattelberger
Kapitel 02 Norderney
Eine Insel war genau das Richtige. Das Meer, die Ost oder Nordsee, hatte immer eine beruhigende Wirkung auf sie ausgeübt. Dort ließ sich genügend Abstand schaffen, um sich darüber schlüssig zu werden, wie sie ihr weiteres Leben gestalten wollte.
Sie nahm sich Zeit in einer Zeit, die sich selbst als teure Ware handelte.
Zur Anreise wählte sie den Zug, statt das Auto zu nehmen. Sie fuhr auch nicht auf direktem Weg nach Norderney, sondern übernachtete im Hotel Berlin in Köln und schaute sich bei dieser Gelegenheit die Stadt an, zunächst ihren Dom. Sechshundert Jahre Bauzeit! Was dagegen war die Lebensspanne eines Menschen? Und dann genügte ein Federstrich, daß man im Zweiten Weltkrieg versuchte, Menschen wie Kunstschätze auf barbarische Weise auszulöschen. Welch ein Wahnsinn!
Ihr Zug sollte am nächsten Morgen 8 Uhr 34 von Gleis 36 abfahren. Menschen hasteten an ihr vorüber. Es war, als würde sich eine Dampfwalze auf sie zu bewegen. Natürlich: Im Rheinland hatten die Ferien begonnen! Bei den Berufstätigen schien die Hektik verständlich, aber auch bei den Urlaubern – die sie gut zu unterscheiden wußte – zeigten sich die gleichen Symptome: Alle hatten es eilig.
Der Zug rollte in die Halle. Cornelia setzte sich auf eine der Bänke, um die Aussteigenden passieren zu lassen, ohne umgerannt zu werden. Sie schaute sich ein wenig um: Die Neonwerbung „4711“ leuchtete ihr in Riesenziffern entgegen. Auf den anderen Gleisen rollten Züge ab, andere ein, begleitet von blechernen Lautsprecherdurchsagen. Sie genoß es, dem geordneten Chaos recht unbeteiligt zusehen zu können. Eine erneute Durchsage galt diesmal ihrem Zug. Sie stieg ein. Mittags durchquerten sie bereits Ostfriesland. Die ersten Windmühlen wurden zu ihrer Freude sichtbar. 13 Uhr 46 hieß es per Lautsprecher: „NorddeichMole“. Hier bestieg sie das Schiff. Es lag, nur wenige hundert Meter vom Zug entfernt, ablegbereit am Kai. Weittönend rief die Schiffsglocke, und das Schiff der „Frisia“ glitt vorerst in der Fahrrinne, bald darauf auf See hinaus. Rings um sie herum Wasser, Wasser, nichts als Wasser. Das Schiff machte einen recht gemütlichen Eindruck mit seinen Blumen an den Fenstern, einer schönen Holzverkleidung an Decke und Wänden, mit lederbezogenen Sitzbänken und festgeschraubten Tischen. Ein Besatzungsmitglied fragte nach Cornelias Wünschen. Sie verzichtete jedoch auf eine Bestellung, denn der starke Seegang ließ das Schiff leicht hin und herschaukeln.
Als sie in Norderney anlegten, wartete bereits ein Taxi, welches sie ins Hotel brachte. Ihr Zimmer – eine Enttäuschung. In seiner Größe glich es eher einer Besenkammer, wie das bei Einzelzimmern nicht nur zu ihrem Bedauern oft der Fall ist – dafür aber mit Blick zur See. Cornelia betrachtete diese winzigen Kemenaten immer als Affront gegen alle Singles, die immerhin einen sehr großen Anteil der Reisenden ausmachen.