Verrückt genug Schriftstellerin zu werden - Ein Roman von Brigitte Sattelberger
Kapitel 07 Abschied
Und während der Zug durch das Land rauschte, fühlte Cornelia ein Glücksgefühl in sich aufsteigen. Ein Gefühl der Dankbarkeit. Das Schicksal hatte ihr zwar von frühester Kindheit an oft mehr aufgebürdet, als sie glaubte, ertragen zu können, aber auch stets ein Schlupfloch gelassen. Wie wunderbar fügte sich in letzter Zeit alles zusammen. Cornelia lernte viele interessante Menschen auf ihren Lesereisen kennen, Freundschaften entstanden. Die bewegenden Worte der Zuhörerinnen nach Vorstellung ihres neuen Buches klangen noch in ihrem Ohr. Sie fühlte sich reich beschenkt. Der einzige Wermutstropfen: Die Eltern durften weder die Wiedervereinigung ihres Vaterlandes noch den schriftstellerischen Erfolg ihrer Tochter erleben. Sie wären stolz auf sie gewesen. Egal, wo die beiden sich befanden, für Cornelia stand fest, sie wußten Bescheid. Sie würden stets schützend ihre Hände über Cornelia halten und über sie wachen.
Ein älteres Ehepaar stieg zu und nahm Cornelia gegenüber Platz.
„Möchtest du gern am Fenster sitzen, Liebes?“ fragte der aufmerksame Mann.
Wie schön, wenn zwei Menschen auch im Alter noch einander Fragen stellen und auf das Wohl und die Wünsche des anderen bedacht sind. Als sich die beiden gesetzt hatten und einvernehmlich nach draußen schauten, widmete sich Cornelia erneut ihren Erinnerungen.
Weitere Jahre waren ins Land gegangen, ohne daß sie eine Möglichkeit gefunden hatte, ihren Traum zu verwirklichen, einen autobiographischen Roman zu schreiben und dafür einen Verleger zu finden. Oft stellte sie sich die bange Frage, ob in absehbarer Zukunft überhaupt mit einer Gelegenheit zu rechnen war. Eine Frage, die sie damals einfach nicht losließ. Sie schrieb Gedichte, kleine Erzählungen für dieses und jenes Blatt. Aber was wog das schon gegenüber dem glühenden Verlangen, das sie beherrschte, ihren Roman veröffentlicht zu sehen. Am Ende bliebe ihr nichts anderes übrig, als sämtliche Erinnerungen erneut in den Schatzkasten der Vergangenheit zu verbannen.
Weihnachten – das Fest der Liebe und Freude nahte. Es sollte ein sehr trauriges Fest für sie werden. Tragische Ereignisse stellten sich für ihre Familie oft in dieser Zeit ein. Eine wirklich Frohe Weihnacht konnte sie kaum einmal aus Kindertagen erinnern. Krankheit oder Trauer überschatteten sie. Auch dieses Mal kam die Hiobsbotschaft am Tag vor Heiligabend.
Cornelia hatte eine Viertelstunde früher als gewöhnlich ihre Dienststelle verlassen, so daß ein Anruf aus der KlinikVerwaltung sie nicht mehr erreichte: Ihre Mutter war ins Koma gefallen, es mußte stündlich mit ihrem Ableben gerechnet werden. Während ihr Vater sich bereits mit dem Taxi auf dem Weg ins Krankenhaus befand, wartete Peter auf Cornelias Erscheinen, um ihr die traurige Botschaft zu vermitteln und sie sofort in die Klinik zu fahren.
Cornelia setzte sich ans Sterbebett ihrer Mutter, hielt deren Hand und streichelte sacht darüber. Sie sprach leise zu ihr und hoffte, die Kranke möge ihre Stimme noch wahrnehmen. Seit vierundzwanzig Stunden lag ihre Mutter im Koma. Cornelias Vater saß wie versteinert an der anderen Seite des Bettes und wirkte wie ein verschrecktes Kind – er sah elend aus. Sie schaute ihn an, und es zerriß ihr fast das Herz.
„Wir können hier nichts tun, und da genügt es, wenn ich bleibe, Papa. Bitte fahr nach Hause, ruhe dich ein wenig aus, denn du wirst deine Kräfte in nächster Zeit noch brauchen.“
Sie versuchte dabei äußerlich ruhig und gelassen zu erscheinen, wie stets, wenn es wichtige Entscheidungen zu treffen galt. Ihr Vater schien irgendwie erleichtert und nickte ihr zu. Er stand sofort auf und ließ sich von Cornelia zum Taxi begleiten. Vier Jahre Krankenlager der geliebten Frau und Mutter – mit Hoffnung und Verzweiflung gepaart. Seine Kräfte aufgezehrt, hatte er zuletzt nur noch um die Gnade der Erlösung gefleht.