Verrückt genug Schriftstellerin zu werden - Ein Roman von Brigitte Sattelberger
Kapitel 07 Abschied
Aus gesundheitlichen Gründen arbeitete sie seit einem Jahr nur noch halbtags, so konnte sie problemlos die übrige Hälfte bei ihm verbringen. Erst spät abends, nach einem langen Tag, fuhr sie nach Hause, Unruhe im Gepäck, denn auch Peter forderte sein Recht. Morgens 4 Uhr 30 hieß es aufstehen, 5 Uhr 30 fuhr der Bus. Kräftezehrende Wochen folgten. Wochen, in denen sie neben ihrem Vater auf der Couch saß und den alten Mann stundenlang wie ein Baby in ihren Armen hielt, ihn umsorgte, ihm half, den Schleim aus seinem Rachen zu entfernen, an dem er zu ersticken drohte.
Martha Schulze spendete ihr in dieser schweren Zeit unentwegt Trost. Jede der Kolleginnen war für sie da, wenn sie etwas brauchte oder wenn Besorgungen erledigt werden mußten.
Wieder ein Weihnachten voller Kummer und Sorgen. Silvester kam, und Cornelia saß an Vaters Bett. Seine frühere Energie glich jetzt nur noch einem Windhauch, er war zum Schatten seiner selbst geworden. Sie wußte, weder ein Gebet noch ihre Liebe noch ein tröstendes Wort würden ihn von der Schwelle des Todes zurückhalten. Cornelia hatte dem Tod in ihrem Leben zu oft ins Angesicht schauen müssen, als daß sie ihn nicht erkannte. Sie blickte erschüttert in die lieben, gütigen Augen ihres Vaters, die von ungeweinten Tränen brannten, und beide wußten, daß einer dem anderen etwas vorspielte, um ihm die Angst vor dem Nichts, dem nahenden Ende zu nehmen. Selbst in dieser Situation gab er ihr noch Ratschläge und bat:
„Bitte achte künftig mehr auf deine Gesundheit, Kind. Versuche, nicht immer die Starke zu sein. Nimm dir viel Zeit für dich und deine Ansprüche. Erfülle nicht immer nur die Wünsche der anderen, sondern stelle die deinen einmal in den Vordergrund, und bitte – denke auch in Zukunft an deinen Roman. Du schaffst es. Ich bin sicher, du findest eines Tages dafür einen Verleger!“
Zu Jahresbeginn mußte sie den Arzt rufen – eine erneute Krankenhauseinlieferung folgte. Sie blieb an der Seite ihres Vaters und wartete, bis er mit allem versorgt im Bett lag. Gesprochen wurde wenig. Sie hielten einander die Hand, bis sie sich nach mehr als drei Stunden von ihm verabschiedete. Der Arzt schloß eine akute Sterbegefahr für die Nacht aus. Ein letztes Streicheln, ein zärtlicher Kuß, ein Winken an der Tür, dann ging sie. Vaters Leiden fand in den frühen Morgenstunden sein Ende. Der Tod streckte schneller seine Hand aus als erwartet, und so machte sie sich Vorwürfe, nicht die ganze Nacht, vor allem nicht wie versprochen, bis zu seinem letzten Atemzug, bei ihm gewacht zu haben.
Eine Aufregung jagte die andere, denn selbst die ewige Ruhe schien ihrem Vater nicht gegönnt zu sein. Die Friedhofsverwaltung stimmte einer Urnenbeisetzung im Grab der Mutter – wie vorgesehen – nicht zu. Sie erhielt die Mitteilung, daß im Vorjahr die Statuten und damit Liegefristen von der Verwaltung geändert worden waren, was Behördengänge über Behördengänge nach sich zog. Endlich konnte ihr Vater mit einer Ausnahmegenehmigung doch im Grab ihrer Mutter beigesetzt werden.
Die Auflösung der Wohnung forderte ebenfalls viel Kraft und Herzblut. Alles Brauchbare kam in riesige Kartons und nahm den Weg an Freunde und Verwandte in die DDR. Auch hier halfen Martha Schulze und deren Mann beim Abtransport der Dinge mit dem Auto zur Post.
Um so schmerzlicher traf Cornelia ein halbes Jahr später Marthas Ausscheiden aus dem Dienst. Sie ging in Rente. Ihr Versprechen, sich künftig einmal im Monat zu sehen, hielten beide ein, bis zu Marthas Tod. Siebzehn Jahre lang hatten sie Freude und Leid miteinander geteilt, so etwas schweißt zusammen.
Im Rahmen einer Rationalisierung kam ein Jahr später das „Aus“ für die Dienststelle und damit auch für Cornelia.
Nach dem Tod ihres Vaters verschlechterte sich Cornelias Gesundheitszustand derart, daß ihr der Arzt zur Stellung eines Rentenantrages riet. Damit begann wieder ein ganz neuer Lebensabschnitt für sie.