Verrückt genug Schriftstellerin zu werden - Ein Roman von Brigitte Sattelberger
Kapitel 08 Politische und private Umwälzungen
Cornelia hatte plötzlich Zeit, viel Zeit sogar. Etwas gänzlich Neues, aber sie genoß es. „Morgen ist auch noch ein Tag“, hörte sie sich mehrfach sagen. Was ihr früher absurd, ja unmöglich erschien, jetzt konnte sie eine geschlagene Stunde im Sessel sitzen und in den Garten hinausschauen. Einfach so, die Natur genießen, zusehen, wie sich die Blätter im Wind bewegten, die Vögel sich ihres Daseins freuten.
Immer wieder erinnerte sie sich an die Worte ihres Vaters: „Nimm dir Zeit und denke an deinen Roman. Wir leben in einer so geschichtsträchtigen Periode, Cornelia, da ist es besonders wichtig, herausragende Ereignisse festzuhalten, denn Geschichten sind eine typische Form der Aufbewahrung von Lebenswissen. Ohne Erinnerung gibt es für den Menschen keine Zukunft.“
„Wenn, dann möchte ich aber die Wahrheit schreiben“, hatte sie geantwortet.
„Wahrheit – Wahrheit ist immer subjektiv, ebenso wie Geschichte das Gewand ist, mit dem die Wirklichkeit verkleidet wird.“
All diese Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn.
Eines Tages holte sie ihr Manuskript hervor, das sich mit vielen anderen Dingen unter dem Nachlaß ihres Vaters befand. Sie las es sehr genau und stellte dabei fest: So konnte und wollte sie es nicht belassen. Es war zu sehr aus dem emotionalen Erleben heraus geschrieben. Zu viele Rachegefühle, große Wut und Enttäuschung standen im Vordergrund. Sie würde mit den Aufzeichnungen nicht erst im Jahr 1945 einsetzen. Nein, bereits 1933. Tagebuchähnliche Vermerke ihres Vaters kamen ihr dabei zugute.
Vier Wochen später setzte sie sich an die Schreibmaschine und begann, die ersten Seiten zu tippen. Vielleicht würde das Manuskript zu seiner Fertigstellung Jahre beanspruchen. Aber nach der langen Zeit des Wartens spielten zwei, drei Jahre keine Rolle mehr. Sie lebte zwischen Hoffen und Bangen, ob sie der Chronologie der Ereignisse auch würde gerecht werden können. Die Hoffnung war es schließlich, die zu dominieren begann und die Konflikte in den Schatten stellte, die sich anbahnten.
Peter nämlich sah ihrer ununterbrochenen Schreiberei keineswegs mit Wohlwollen zu. Er brachte in seinem Verhalten zum Ausdruck, sich um die Liebe seiner Frau, um Cornelia selbst betrogen zu fühlen. Seiner Meinung nach ging mit ihr in dieser Zeit eine Wandlung vor sich. War sie seinen Wünschen bisher offen entgegengekommen, ließ sie sich in diesem Fall von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Auch dann nicht, als sie merkte, daß sie von einem euphorischen Hoch in tiefe Depressionen stürzte. Sie kommunizierte mehr mit ihrer Schreibmaschine als mit Peter. Er warf Blicke auf das Gerät, als handele es sich um einen Rivalen. Peter selbst hatte sich stets in seiner eigenen Gedankenwelt bewegt, war kein Freund der Konversation, geschweige denn längerer Diskussionen gewesen. Jetzt aber schmollte er und hüllte sich tagelang in Schweigen. Er schien nicht begreifen zu wollen, daß Cornelia eine Entscheidung getroffen hatte, von der sie nicht mehr zurücktreten konnte oder wollte. Diesmal war sie nicht bereit, klein beizugeben. Sie kämpfte.
Tatsächlich waren mehr als zwei Jahre verstrichen, als sie sich dem Ende ihres umfangreichen Manuskriptes näherte. Der Kalender zeigte das Jahr 1989 an.
Ein Datum, das enorme politische Veränderungen mit sich bringen sollte. Veränderungen, die sich Cornelia und viele andere nicht in kühnsten Träumen so hatten vorstellen können.
Obwohl der Zug geheizt war, in dem sie immer noch saß, fror sie plötzlich als sie diese Ereignisse wachrief, als seien sie erst gestern geschehen. Daten, die sie nie vergessen würde.