Kapitel 09 Begegnung in Berlin

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Und weiter eilten ihre Gedanken. Eine ihrer besten Freundinnen aus DDRTagen war Traudel aus Dresden. Der Kontakt zwischen ihr und Cornelia war in all den Jahren nicht abgerissen. Als sie verrentet wurde, ging die erste Einladung an Traudel, ihren Urlaub in Saarbrücken zu verbringen. Sie nahm seitdem diese Möglichkeit gern wahr. Aber Ostern 1990 erhielt Cornelia einen langen Brief, der mit dem Satz endete:

„... liebe Cornelia, Mutti und ich rechnen nun, da die Mauer gefallen ist, ganz fest mit Deinem Besuch in diesem Jahr. Wir und Dein geliebtes Dresden, alle warten und freuen uns auf Dich.“

In fast gleichlautenden Worten wünschten ihre Verwandten und Freunde Cornelia herbei. Alle wollten sie so rasch wie möglich sehen. Welch beglückendes Gefühl!

Wie viele Jahre lang hatte Cornelia auf solch einen Augenblick gehofft. Ihr gesunder Menschenverstand sagte: Fahr nur, es kann dir nichts passieren. Dennoch schwelte da ein Funke Unsicherheit, den sie nicht zu überspringen wagte. Sie teilte ihre Bedenken Traudel mit, die darauf mit einem neuen Vorschlag reagierte:

„Wie wäre es mit einem Wiedersehen in Berlin? Wir könnten bei meiner Freundin Inge wohnen. Gib mir bitte schnellstens Bescheid ...“.

Cornelias Herz klopfte vor Aufregung. Diese Lösung gefiel ihr auf Anhieb. Sie sprach mit Peter und fällte sofort eine Entscheidung, die sie Traudel schriftlich mitteilte – Telefonverbindungen gab es noch so gut wie keine.

„... wenn es Dir recht ist, komme ich Mitte Mai nach Berlin.“

In Berlin konnte sie sich einen Überblick verschaffen, Altes überprüfen und die neue Situation erkunden. Lief alles gut, hieße ihr nächstes Ziel Dresden.

14. Mai 1990, 5 Uhr 47. Wieder einmal saß Cornelia im Zug, diesmal nach Berlin.

Der Morgen graute. Es wurde von Minute zu Minute heller. Cornelia schaute aus dem Fenster. Leichter Nebel lag über den vorbeihuschenden Wäldern. Es erfaßte sie ein erhebendes Gefühl, in den jungen Morgen hineinzufahren. Aus den Schornsteinen der Häuser stieg weißer Rauch. Die Menschen begannen ihr Tagewerk. Leise rollte der Zug dahin. Ginsterbüsche zierten die Seiten der Bahngleise. Am Horizont zeichnete sich der schmale Kondensstreifen eines Flugzeuges ab. Wohin mochte es seine Insassen bringen? In ein Land mit bereits sommerlichen Temperaturen? Ihre Gedanken eilten ihrem Fahrtziel voraus – Berlin. Ihr letzter Aufenthalt in dieser Stadt lag Jahrzehnte zurück, fand lange vor dem Mauerbau statt. Mit Berlin verband sie so viele Erinnerungen. Ob seine Einwohner unter der Teilung besonders stark gelitten hatten, geprägt davon waren? Nun galt diese Stadt als frei, war wieder eine Einheit, ohne Mauer und Stacheldraht, die 1961 errichtet und vom Volk durch eine stille Revolution am 9. November 1989 niedergerissen worden waren.

Ein glutroter Ball stieg im Osten aus den mit Nebelschleiern bedeckten Wiesen. Die Sonne mit ihrem morgendlichen Rot brach sich in den Fensterscheiben der Stellwerkshäuschen der Bahnhöfe. Dieses alles belebende, erweckende Rot schenkte der Menschheit Kraft, Wärme, Lebenswillen, und Cornelia reckte sich unwillkürlich. Die Landschaft wechselte zu grünen Wiesen. Dazwischen lagen gelbe Flecken, auf denen sich das wachsende Korn abzeichnete. Vorbei ging es an Bächen, Weihern, über Brücken, durch lange Tunnel hindurch. Nach fünf Stunden Fahrt erreichten sie Bebra. Die Brücken vor Berlin wirkten auf Cornelia erschreckend in ihrem total verrosteten, desolaten Zustand, sie sahen fast lebensgefährlich aus. Ihr schien, als würde der Zug mehr darüber kriechen als fahren. Endlich erreichten sie ihr Ziel.

Traudel erwartete sie bereits auf dem Bahnsteig – Bahnhof Friedrichstraße. Ihr einst schwarzes Haar zeigte ein schneeiges Weiß, was ihr gut zu Gesicht stand. Sie rannten aufeinander zu und fielen sich in die Arme – heulten Freudentränen.