Verrückt genug Schriftstellerin zu werden - Ein Roman von Brigitte Sattelberger
Kapitel 10 Reise in die Heimat
Im September entschloß sich Cornelia, dem Ruf ihrer Verwandten und Freunde zu folgen. Eine Fahrkarte war schnell gekauft. In Frankfurt/Main stieg sie punkt 23:00 Uhr in den Zug nach Warschau um – eine durchgehende Verbindung von Saarbrücken nach Dresden gab es noch nicht. Das Ungeheuer, das sich Eilzug nannte, machte einen wenig einladenden Eindruck. Die stockdunklen Wagen erinnerten sie an Kriegszeiten – welch ein Graus. Endlich fand sie den Wagen mit den Erste-Klasse-Abteilen. Sie öffnete die Tür, stieg ein und tastete sich im Dunklen vorwärts Ein muffiger Geruch schlug ihr entgegen. Die einzige Lichtquelle fiel vom Bahnsteig aus durch die fast blinden Scheiben in die Abteile. Plötzlich hörte Cornelia heimatliche Laute, die sofort ihren Unmut über diesen katastrophalen Bahn-Service linderten. Vor ihr stolperte ein Paar aus Sachsen den trostlos wirkenden Gang entlang und suchte wie sie das Abteil, bevor die beiden im Dunkel verschwanden. Mit einer kleinen Taschenlampe, die Cornelia immer in ihrer Tasche trug, fand sie schließlich die Nummer ihres Abteils. Als sie die Tür aufzog und guten Abend sagte, stellte sie erfreut fest, daß sie mit eben jenem Paar aus Sachsen das Abteil über Nacht teilen würde.
„Fallen Se bloß nich über unseren Koffer, Fräulein“, und „fahren Se ooch nach Dresden?“ waren die Begrüßungsworte. „Mir kommen nämlich gerade von unserer Dochter aus der BRD. Wir waren dort zu Besuch, gell Mama“, klärte sie der ältere Herr auf.
„Wie schön für Sie. Es freut mich, in Begleitung von Landsleuten nach Dresden zu reisen. Nach dreiunddreißig Jahren ist das die erste Fahrt in meine alte Heimatstadt, worüber ich sehr glücklich bin.“
„Das gloobe ich Ihnen gern. Wir wohnen in Hellerau, der Gartenstadt Dresdens“, fuhr er fort. „Sie werden staunen, wieviel marode Häuser es in Dresden gibt. Ich meene nicht die vom Bombenangriff, sondern die, in denen keen Mensch mehr wohnen kann.“
„Ist es so schlimm?“
„Nu, ich finde es reicht.“
„Es wurde aber auch einiges neu gebaut“, fiel ihm die Frau ins Wort.
„Die ollen Kästen, die kannste vergessen, Mama. Die passen doch zu unserem schönen alten Dresden, wie die Faust ofs Ooge.“
Was würde sie in der alten Heimat erwarten, überlegte Cornelia. Mit mehr als 30 Minuten Verspätung rollte der Zug endlich aus dem Bahnhof. Sie war froh mit diesen netten Leuten zusammenzusein, denn die Dunkelheit in den Waggons gefiel ihr ganz und gar nicht.
„Ich gloobe, mir ham Glück und können das Abteil für uns alleene behalten. Es sind nur unsere beeden Reservierungsschildchen angebracht“, setzte der Mann das Gespräch fort.
Sie zogen die Sitze aus und schafften sich eine Liegefläche für die Nacht. Nach der ersten Fahrkartenkontrolle machten sie es sich bequem, und die nächtliche Unterhaltung versiegte. Stille – bis auf das regelmäßige Atmen des Ehepaares. Leider wurde die Nachtruhe – allein von Frankfurt bis Gera viermal – durch wiederholte Fahrkartenkontrollen unterbrochen. Irgendwann nickte Cornelia ein. In Eisenach erwachte sie und vermißte sogleich das eintönige Rattern der Räder. Sie trat auf den Gang und zog das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen. Ein Sternenhimmel wölbte sich in seiner ganzen Pracht über ihnen. Der Zug stand bereits eine Dreiviertelstunde auf den Gleisen, ohne daß der vorbeigehende Streckenwärter ihr einen Grund dafür nennen wollte. Reine Willkür, ganz wie zu DDRZeiten, überlegte sie. Ihre Gedanken wanderten nach Dresden. Hoffentlich konnte sie alles wie geplant durchführen – jeweils drei Tage Aufenthalt pro Familie. Bei Traudel und ihrer Freundin Margit würde es keine Probleme geben. Mit Margit, die als Rentnerin schon seit Jahren in die BRD reisen durfte, hatte sie sich einige Male in BadenBaden getroffen. Die Verwandten allerdings waren jünger und hatten daher nie eine Besuchserlaubnis erhalten. Rita, die Tochter ihrer Cousine Isolde, wurde im Juli 57 geboren, als Cornelia flüchten mußte. Sie hatte das Baby daher nur einmal im Arm halten dürfen. Aus dem Baby von damals war zwischenzeitlich eine verheiratete Frau mit drei Kindern geworden. Eines davon – Tobias – zählte zu Cornelias Patenkindern. Es wurden über all die Jahre hinweg enge Kontakte gepflegt. Cornelia hatte so viele Pakete geschickt, daß diese zusammen zwei Güterwagen füllen würden. Cornelia wußte, wann die Kinder zahnten, Mumps hatten, wer in den Kindertanzkursus ging, ob es gute oder schlechte Noten in der Schule gab und wer sich zuviel Schokolade auf einmal einverleibt hatte. Fotos zeigten das Heranwachsen. Aber es waren eben nur Bilder, Briefe. Wie würde es sein, wenn sie sich gegenüberstanden? Sie fühlte sich unsicher. Wahrscheinlich ging es ihnen nicht anders, versuchte sie sich zu trösten. Die Heimat rückte mit jeder Umdrehung der Räder näher, und ihr Herz klopfte wie wild. So wild, daß es fast weh tat. Sie sagte sich: Nimm dich zusammen, werde ruhig, sonst zerbricht dein Herz vor lauter Freude.