Kapitel 11 Ein zweiter Versuch

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Das Jahr 1991 begann, und Cornelia schrieb noch immer an ihrem Manuskript. Es wurde Juni – der Himmel strahlte an diesem Tag in schönstem Blau, und die Sonne lockte hinaus ins Grüne –, als sie schließlich die sechshundertunddreißigste und damit letzte Seite von „Schatten der Vergangenheit“ in die Maschine tippte.

„Fertig!“ Fest davon überzeugt, ihren autobiographischen Roman endgültig beendet zu haben, lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und streckte die Beine aus. Wie ein Feldherr nach einer gewonnen Schlacht. Ihre gesamte Muskulatur war vom vielen Sitzen und Schreiben verkrampft. Ihr Genick fühlte sich steif an. Jede Drehung des Kopfes verursachte ihr höllische Schmerzen im Schulter und Nackenbereich, was sie all die Wochen und Monate über ignoriert hatte. Sie knetete ihre Finger, bis die Knöchel krachten, denn auch hier spürte sie deutlich die Überspannung. Trotzdem durchströmte sie ein ungeahntes Glücksgefühl: Du hast es geschafft, geschafft. Cornelias Blicke wanderten zu den Fotografien ihrer Eltern. Auch dort glaubte sie, ein zufriedenes Lächeln wahrzunehmen. Sie hätte am liebsten die ganze Welt umarmt und fing damit bei Peter an, der gar nicht begriff, wie ihm geschah. Er hatte in den letzter Monaten sehr viel Geduld für sie aufgebracht, denn während Cornelias Schreiben hatten sich die beiden trotz räumlicher Nähe voneinander entfernt. Ein anderer Stern war Cornelias Zuhause geworden, wo sie noch einmal all die schönen, aber auch schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit durchlebt hatte.

Peter mahnte tagtäglich:

„Es wird Zeit, daß du mit deinen Aufzeichnungen zu Ende kommst und dich wieder mir widmest.“

Peter haßte Konfliktsituationen oder solche, die es zu werden drohten. Andererseits wußte Cornelia, daß ihn das, was sie schrieb, keinen Deut interessierte. Ihre Fragen, ob er einen Teil ihrer Aufzeichnungen lesen wolle, hatte er stets mit Kopfschütteln und abwertendem Lächeln quittiert. In ihrer großen Verzweiflung, die sie beim Schreiben so oft gepackt hielt, war es ihr nicht möglich gewesen, sich ihm auf irgendeine Weise zu öffnen. Sie hatte ihn weder an ihren glücklichen Momenten noch an ihrer Trauer teilhaben lassen können. Cornelia blieb eisern bei ihrem Vorhaben, dachte an ihr Versprechen dem Vater gegenüber. Im Geist sah sie ihn oft vor sich sitzen, ein Lächeln auf den Lippen und die Hände wie früher nach ihr ausgestreckt. Sie spürte förmlich das sachte Streicheln seiner Hand über ihr Haar, hörte seine Worte:

„Verrate nie deine Ideen, Kind. Bleib dir treu und schreibe dein Buch. Du schaffst es bestimmt.“

Cornelia glaubte fest daran, es dieses Mal zu schaffen. Nach ihren Fehlschlägen von 1969 startete sie nun den zweiten Versuch, ihr Manuskript bei einem Verlag unterzubringen. Jeweils eine Kopie davon gingen an fünfzehn Verlagshäuser ab. Aber auch dieses Mal schien der Weg mit Hindernissen gepflastert. Nur der Lektor eines Berliner Verlages reagierte auf ihr Anschreiben:

„... das Thema ihrer autobiographischen Erzählung ist gut gewählt, den Inhalt finde ich ergreifend und interessant erzählt. Als vollkommen unbekannte Autorin werden Sie allerdings bei dem Umfang Ihres Manuskriptes auf große Schwierigkeiten stoßen. Die gängige Art von Romanen weist zirka 300 bis 350 Seiten auf.“

Er fügte folgenden Tip hinzu:

„Sie sollten Ihr Manuskript überarbeiten und zur Umgestaltung einen Lektor hinzuziehen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“

Wenigstens ein Vertreter dieser Zunft, der Menschlichkeit walten ließ. Sie war ihm für seine Ehrlichkeit und seinen Rat dankbar. Wo aber sollte sie einen geeigneten Lektor finden? Wen konnte sie um Rat bitten? Sie kannte weder jemanden aus der Branche noch LiteraturStudierende.

Sie versuchte es mit einer Zeitungsannonce. Die Rückmeldungen fielen mager aus. Die Interessenten brachten entweder keine einschlägigen Erfahrungen mit oder ihre HonorarForderungen waren unbezahlbar. Aufgeben?, fragte sich Cornelia. Nein, das kam nicht infrage. Zuviel Kraft, Tränen und Herzblut steckten in diesen sechshundertdreißig Seiten. Sie mußte einen Menschen finden, auf dessen Kompetenz und Urteil sie bauen durfte. Aber wie und wo sollte sie fündig werden?

Cornelias erste Kritikerin sollte Ursula werden, ihre Haushaltshilfe und spätere Freundin. Ursula war eine Frau, die mit beiden Beinen auf der Erde stand, Mutter dreier Kinder war, und vor allem den Abstand zu Cornelia hatte, um deren Geschichte vorurteilsfrei aufzunehmen. Cornelia wußte wiederum, daß Ursula gern gute Bücher las. Sie stellte keine indiskreten Fragen, auch nicht, als sie Cornelia heulend über ihre Arbeit gebeugt sitzen sah. Trotzdem empfand Cornelia sie anteilnehmend, auf eine stille, selbstverständliche Art.