Verrückt genug Schriftstellerin zu werden - Ein Roman von Brigitte Sattelberger
Kapitel 19 Verrückt genug...
In Dresden wurde sie von Isolde und Günther empfangen. Diesmal stand einer Umarmung nach Herzenslust nichts im Wege, denn die Erkältung war kuriert.
Tags darauf fand ein großes Familientreffen statt. Die Gespräche drehten sich um aktuelle Veränderungen, manche waren lobenswert, andere wurden bemängelt. Bei denen, die Arbeit hatten, ging es auch mit den Zukunftsplänen voran. Bei ihrem Cousin Achim stellte Cornelia allerdings eine gewisse Resignation fest: Er, der seit seinem vierzehnten Lebensjahr bei der Reichsbahn beschäftigt gewesen war, verlor im Zuge der Rationalisierung seinen Arbeitsplatz. Er mußte sich mit siebenundvierzig Jahren ins Heer der Arbeitslosen einreihen, eine bittere Erfahrung für ihn. In seinem Alter etwas Passendes zu finden, war schwer, fast aussichtslos. Auch die beiden Töchter von Isolde befanden sich zur Zeit auf Stellensuche – und das mit fünfunddreißig. Sie fühlten sich abgeschoben, überflüssig, mußten demzufolge jede Mark dreimal umdrehen. Diskutiert wurde auch das Unverständnis dafür, daß Wagenladungen neuer Bücher einfach vernichtet wurden und in den Kindergärten stabiles, vor und gleich nach der Wende neu erworbenes Spielzeug durch Westware ersetzt werden mußte. Bei der Übernahme eines der großen Hotels in der Prager Straße hatte man containerweise Gebrauchsartikel einfach verschrottet: in Cellophan verpackte Zahnbürsten, kleine Radios, Ansichtskarten in Buntdruck von Dresden und anderes mehr. Einzig aus dem Grunde, weil der Westbesitzer alles mit Westware ausstatten wollte. Obstplantagen wurden ihre Früchte nicht mehr los. Sie vergammelten am Straßenrand. Im Gegenzug wurde das Obst per Laster aus dem Westen an die Verkaufsketten geliefert. Für diese und andere Machenschaften, ganz zu schweigen vom Abfackeln der Häuser, um das Bauland verkaufen zu können, hatten ihre Verwandten kein Verständnis. Auch Cornelia fand derartige Dinge nicht nur unseriös, sondern schon kriminell.
Zuletzt gab es viele gute Wünsche für Cornelia und ihr Buch „Schatten der Vergangenheit“, die Erfolgssträhne sollte möglichst lange dauern.
Nach der Lesung in Plauen blieb Cornelia nur noch ein Tag übrig. Der wiederum war mit einem Termin bei Frau Venturini in der Zeitungsredaktion und einem anschließenden Treffen mit ihrer Freundin Traudel verplant.
Es war der erste sonnige Tag, den sie auf ihrer Reise erlebte. Cornelia zog ihren roten Zweiteiler an, setzte sich keck ihren großen weißen Strohhut auf und verabschiedete sich so von Isolde.
„Toll siehst du aus, Conny. Ich weiß nicht, wie du das machst, aber du hast dich in all den Jahren so gut wie nicht verändert. Bist immer noch die vornehme Lady und würdest dich gut als Titelbild auf einer Illustrierten machen.“
„Schmeichlerin.“
„Nein, Cornelia; etwa wenn Angela Wiedel im Fernsehen sang, in einer Zeit, wo Günther dich noch nicht persönlich kannte, habe ich ihm gesagt, da schau, so hat unsere Conny früher ausgesehen. Ihr habt nämlich eine frappierende Ähnlichkeit, finde ich.“
„Danke, das ist ein liebes Kompliment. Nun muß ich aber gehen, sonst bekomme ich womöglich einen Höhenflug, Isolde.“
Die Straßenbahn brachte sie bis zum Postplatz, von hier aus spazierte Cornelia langsam in Richtung Zwinger. Sie ging über die Brücke durchs Kronentor und suchte nach einer sonnigen Bank. Sie genoß die morgendliche Stille, die nur durch das Rauschen der Springbrunnen unterbrochen wurde. Die Fontainen plätscherten nur für sie, ebenso wie das Meißener Glockenspiel. Sonnenstrahlen umspielten die Köpfe der Putten auf den Ballustraden, und sie hatte minutenlang das Gefühl, die ganze Pracht und Schönheit gelte allein ihr. Der Zauber verflog, als die ersten Touristen, eine Gruppe Japaner, in ihr Reich einbrachen und den Zwinger nun als den eigenen ansahen. Die nächste Gruppe bestand aus einer Klasse Schulkinder, die unbekümmert und erlebnishungrig von den Dingen Besitz ergriffen. Cornelia stand auf und ging die OstraAllee entlang – zum Rendezvous mit Frau Venturini.
In der Eingangshalle des Verlagshauses hinterließ Cornelia beim Pförtner eine Nachricht für Traudel. Wer weiß, wie lange sich das Gespräch mit Frau Venturini hinziehen würde.